
Mia
Ich sitze auf dem Felsvorsprung hinter unserer Hütte und sehe hinab in das verschneite Tal des Hells Canyon. Die Hütte schützt mich vor dem eisigen Gebirgswind, der mit einem gleichmäßigen Surren über das eisverkrustete Basaltgestein streift, während gläserne Eiszapfen an den Ästen herunterhängen wie weißblaue Flammen und die ersten Sonnenstrahlen reflektieren. Wunderschöne Eisflammen, deren Klirren kaum wahrnehmbar nachklingt.
Gedankenverloren ziehe ich die beißende Kälte tief in meine Lungen und genieße den Moment der Stille. Das glitzernde Weiß um mich herum beruhigt mich auf seltsame Weise. Es wird nicht lange halten, die Winter in Oregon sind meist zu mild. Seit Jahren hat es nicht so viel geschneit. Das ist ein kleines Wunder, denke ich nur und schließe für Sekunden die Augen. Vieles in meinem Leben gleicht einem Wunder …
Heute ist Weihnachten. Der Tag, vor dem mir seit Wochen graut. Weswegen, das kann ich mir selbst nicht erklären.
Mit einem Mal spüre ich eine angenehme Wärme hinter mir. Ich öffne die Augen, ohne mich zu Ryan umzudrehen.
»Du nimmst doch nicht Reißaus, Prinzessin?«, flüstert er mir ins Ohr, legt die Arme von hinten um mich und zieht mich an sich.
Das würde ich zu gerne. Ein Seufzen schiebt sich meine Kehle entlang, ich lehne mich an seine muskulöse Brust und entspanne mich ein wenig. Ich bewundere Ryan für seine Gelassenheit, mit der er dieses ganze Weihnachtstheater, das seine Halbschwester Maggie seit Wochen veranstaltet, hinnimmt. Mir fällt es schwer, weil Weihnachten für mich nicht mehr das ist, was es einmal war.
Sofort hängt der süße Duft von Weihnachtsgebäck in der Luft und Erinnerungen an Mum kommen hoch. Ich schlucke die aufkommende Trauer hinunter und vertreibe die Gedanken an früher – an Mum. Als Kind habe ich Weihnachten geliebt. Nicht wegen der Geschenke, wie die meisten anderen in meinem Alter. Es waren nur wenige Tage im Jahr, doch an diesen haben wir etwas mit Mum unternommen, das Haus geschmückt und zusammen Plätzchen gebacken. Wenn ich daran zurückdenke, fehlen mir diese Tage, an denen die Familie im Mittelpunkt steht. Keine Arbeit, keine Geschäftsreisen. Nur das Zusammensein war wichtig. Selbst meine Brüder und Granny haben diese Tradition über Jahre fortgeführt. Doch im letzten Jahr hat sich vieles verändert. Wir alle haben uns verändert. Allein der Gedanke an Weihachten erscheint mir so fern – nicht greifbar. Irgendwie unantastbar.
Der Druck um meine Taille wird fester und ich spüre Ryans kühle Nasenspitze an meinem Ohr.
»Ich hasse Weihnachten«, sage ich betrübt und kuschele mich an ihn.
»Ist es nicht eher der Wirbel, den Maggie veranstaltet?«
Darüber denke ich einen Moment nach, ehe ich schweigend nicke. Wie immer übertreibt Maggie es. Neben dem riesigen Weihnachtsbaum, den wir gestern bunt geschmückt haben, haben Maggie, meine Tante Isabell und Kim, Ryans Mum, ein Festmahl vorbereitet. Alle, die in der Felsformation leben, sind dazu eingeladen. Heute Abend feiern wir ein großes Fest. Womöglich liegt mein Groll gegen dieses Weihnachten auch daran. Für meine Familie war der Weihnachtsabend immer etwas Familiäres, Intimes. Eine kleine Feier mit meinen Brüdern, unseren Eltern und Großeltern. Ich kenne hier längst nicht alle, auch wenn inzwischen jeder mich kennt. Die Tochter eines Anführers zu sein, bringt allerlei ungewollte Aufmerksamkeit mit sich. Etwas, das ich hasse. Ich stehe nicht gerne in Mittelpunkt. Das habe ich noch nie.
»Wir müssen nicht hingehen«, flüstert Ryan in meinen Nacken.
»Das sind unsere Freunde. Unsere Familie.«
»Deswegen werden sie es verstehen.«
Das würden sie. Dennoch möchte ich niemanden enttäuschen. »Ich wünschte, wir könnten hierbleiben und unser eigenes Ding machen. Nur du, ich, meine Brüder, dein Team, Kim und Maggie. So wie im letzten Jahr.«
»Mit Weihnachten hatte dieses Saufgelage wenig zu tun.«
Bei dem Gedanken daran muss ich lachen. »Stimmt. Allerdings waren die Wichtigsten da. Und darum geht es doch, oder nicht?«
Ryans Schweigen bringt mich nicht aus der Ruhe. Ich weiß, dass ihm Weihnachten nichts bedeutet. Weder im Heim noch in den Jahren danach, spielte Heiligabend eine große Rolle in seinem Leben. Für ihn ist das ein Tag wie jeder andere. Denn eine Familie hatte er nie. Und ein richtiges Weihnachtsfest erst recht nicht. Vielleicht sollte ich es auch so sehen. Dieser Tag ist nicht mehr das, was er einmal war, und mit ziemlicher Sicherheit wird er das auch nie wieder sein.
Nun drehe ich mich doch zu Ryan um. »Wir gehen hin. Vielleicht wird es nicht so schlimm.« Letzteres sage ich eher, um mich selbst zu überzeugen, und stehe auf.
Ryan lächelt, beugt sich zu mir und küsst mich zärtlich. Dann tritt er einen Schritt zurück. »Vorher habe ich noch etwas für dich.«
Erschrocken sehe ich zu ihm auf. Bitte lass es kein Geschenk sein. Wir hatten gesagt: Keine Geschenke!
»Komm. Wir wollen deine Weihnachtsüberraschung doch nicht warten lassen.« Er grinst und stapft durch den fast knietiefen Schnee zum Hütteneingang.
Trotz meiner Befangenheit bin ich neugierig und folge ihm. »Meine Weihnachtsübe…« Die Worte verstummen, als Ryan die Tür aufschließt, wir hineingehen und ich plötzlich eine dunkle Gestalt erkenne.
»Aaron!« Ich stürme durch den Raum direkt in seine Arme. Wobei mir kurz die Luft wegbleibt, weil er mich so fest an sich drückt. »Das ist wirklich eine Überraschung«, murmele ich an seiner Brust, ehe er mir einen Kuss auf die Stirn drückt und mich wieder loslässt.
Im selben Moment klopft es an der Tür.
Ich drehe mich um und werde erneut überfallen. Diesmal von meinen Brüdern Adam und Chris.
»Frohe Weihnachten, Schwesterherz.« Chris ist als Erster bei mir und schließt mich zur Begrüßung in die Arme.
»Frohe Weihnachten«, erwidere ich glücklich und begrüße anschließend Adam.
»Sind wir zu spät?« Maggie stolpert gefolgt von Owen, Kim, Sebastian, Jax, Porter und Paul herein. Ryans Team hat Essen und Getränke dabei, die auf den Esstisch gestellt werden. Ein Korken knallt und Bierflaschen werden geöffnet.
»Frohe Weihnachten, alle miteinander!«
»Frohe Weihnachten«, ertönt es im Chor und während Isabell und Alexander hereinstiefeln, begreife ich, dass wir den restlichen Tag und den Abend hier verbringen werden. Meine innere Anspannung samt der Bedenken sind wie weggeblasen. Machen Platz für das wohlige Gefühl, das mir einst die Menschen gegeben haben, die heute nicht mehr unter uns sind. Obwohl mir Mum, Granny und Lin nun noch mehr fehlen, scheint dieser Augenblick perfekt. Ich schließe die Tür, streife meine Stiefel ab, stelle sie zu dem wilden Schuhwirrwar neben der Kommode und sehe mich um. Er ist perfekt! Die wichtigsten Menschen in meinem Leben sind hier. Sie lachen, trinken und unterhalten sich ausgelassen.
Ein Hauch von Zimt und Bratapfel erfüllt die Luft und ich kann nicht anders, als den herrlichen Duft der frisch zubereiteten Leckereien tief in meine Lungen zu ziehen.
»Dachtest du wirklich, ich halte mich nicht an unsere Absprache?«, höre ich Ryan neben mir witzeln.
»Kurz bin ich nervös geworden«, gebe ich ehrlich zu und lache.
»Ich hoffe, das ist okay für dich«, sagt er mit einer kaum merklichen Kopfbewegung in Isabells und Alexanders Richtung.
Ich habe meinen Vater erst vor wenigen Monaten kennengelernt, doch wie alle anderen sind auch er und Isabell in dieser kurzen Zeit zu einem Teil dieser Familie geworden. Zu meiner Familie. »Das ist mehr als okay«, sage ich und küsse ihn. »Was ist mit dem großen Fest, das alle geplant haben?«
»Heute feiern die Familien und morgen feiern wir alle zusammen.« Wieder grinst er. »Ist das nicht eure Tradition?«
»Woher weißt du davon?«
Sein Blick schweift durch den Raum und bleibt für Sekunden bei meinen Brüdern hängen.
»Ihr habt euch abgesprochen«, stelle ich erstaunt fest. Selbst wenn die Fronten zwischen Ryan und Adam verhärtet sind, sobald es um mich und mein Wohlbefinden geht, sind sie sich einig. Das wird mir jetzt wieder bewusst.
Als ich mich aus unserer Umarmung löse, fällt mein Blick auf Aaron, der neben dem Kamin an der Wand lehnt und sich mit Alexander unterhält.
»Danke.« Mehr muss ich nicht sagen. Ryan weiß, wie viel mir Aarons Anwesenheit bedeutet. Wie viel mir das alles bedeutet. Es ist nicht wie früher und das ist gut so. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Geschehenes nicht ungeschehen machen. Wir alle haben Menschen verloren, die uns am Herzen lagen, aber auch neue Freunde gewonnen. Doch nicht nur das. Die Ereignisse in den letzten Monaten haben uns zusammengeschweißt. Diese Menschen sind mehr als meine Freunde. Sie sind Familie.
»Zeit, den Braten anzuschneiden«, verkündet Kim in das heitere Gewusel.
Während sich die anderen setzen, legt Ryan den Arm um mich. »Frohe Weihnachten, Prinzessin.«
»Frohe Weihnachten.« Ich kann nicht anders, als ihn noch einmal zu küssen, dann setzen auch wir uns an den Tisch.
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Lektorat/Korrektorat: Anne Paulsen Text: © 2021 Romy Terrell